Wie gut muss ich als Migrantin die Sprache kennen, mich den regionalen Besonderheiten anpassen oder mich mit der deutschen Geschichte oder deutsche Traditionen auseinandersetzen? Und, was hat das alles mit Tourismus zu tun?
Jo, jo, jo, Klaun, klaun, Äppel wüllt wi klaun,
ruck zuck övern Zaun,
Ein jeder aber kann dat nich, denn he mutt ut Hamborg sein…
Mein Mann singt dieses norddeutsche Volkslied für unsere Tochter. Ich singe gerne mit, obwohl ich weder Töne noch Text treffe. Klar, ich kann kein Plattdeutsch. Ich verstehe ein paar Floskeln. Wat mut, dat mut. Tja, nu…Wat schas mocken…oder so? Aber ich muss sagen: ich finde mich entzückend, wenn meine Tochter mal das Lied summt und ich, falls mein Mann nicht gerade ums Eck springt, mitanstimme. Ein Lied „op Platt“ und mit French-Touch! Das muss man erst mal hinkriegen! Mein Mann hat einen Akzent, er auch. Das weiß er schon lange, erlebt es allerdings erst seitdem er in Süddeutschland lebt. Hier ist er ein anderer Deutscher als dort, in seiner Heimat. Ich höre immer wieder den Satz „Sprache ist Heimat“. Was heißt das? Ich verstehe es nicht. Ich habe es gegoogelt, so wie ich es oft mache, wenn ich etwas nicht verstehe. Die ersten Ergebnisse zeigen ein Video von Herta Müller. 2011 las sie bei einem Kongress der Union (CDU/CSU) namens „Sprache ist Heimat“. Sie spricht über die Sprache, über die Muttersprache und die Rolle der Sprache bei politischer Unterdrückung und Vertreibung. Sie sagt „Jede Sprache sieht die Welt anders“ und spricht viel besser als ich es je machen könnte über die Rolle der Sprache für Migranten und für Geflüchtete. Ich empfehle sehr ihren Worten in Ruhe zu lauschen. (Link zum Video Herta Müller über die Sprache als Heimat). Ich musste nicht meine Muttersprache verlassen. Ich musste nichts verbergen. Ich kann stolz auf deutschen Straßen Französisch sprechen, mir wird nichts passieren. Ich muss aber die Sprache hinterfragen, denn meine Sprachen sind vielfältiger geworden. Außerdem scheint die Sprache, ein Schlüssel zur sogenannten Integration zu sein. Ich vermute, dass jemand anders angeschaut oder wahrgenommen wird, wenn er arabisch oder russisch auf einer deutschen Straße spricht. Die Sprache ist nicht von ungefähr, sie ist bedeutungsvoll. Sie formt unsere Denkweise und formt uns. Sie ist in diesen Zeiten von wiederholter Hetze sehr wichtig, wir müssen sie weiterhin beobachten und in Frage stellen.
Man muss Deutsch sprechen, um Deutsch zu sein…?
Ich hatte meinen ersten Text an einige Freund*innen geschickt und ein paar Fragen zu meiner bevorstehenden Einbürgerung gestellt. Eine Frage ging um die Vorrausetzungen, um Deutsche zu sein. Ein gemeinsamer Nenner bei vielen Antworten war die Sprache. Es stimmt. Die Sprache des Landes in dem man lebt, muss man können. Aber ist dieses Bild von einer alleinigen einzigen Landesprache nicht veraltet bzw. auf einer engen Weise nationalistisch geprägt. Es gibt ja jede Menge Länder, in denen die Menschen täglich mehrere Sprachen sprechen, in denen Mehrsprachigkeit gang und gäbe ist. Auch nicht weit weg: in Belgien oder in der Schweiz zum Beispiel. In Freiburg liegt die Zahl der mehrsprachigen Kinder bei ca. 40 Prozent. Ihre Welt ist mehrsprachig, für sie ist es normal von einer Sprache in die andere hin und her zu wechseln. Ihr Weltbild ist ein anderes als das, das für viele Erwachsene als „normal“ gilt.
Meine Freunde fragte ich auch „Findest du, ich bin schon längst Deutsch?“. Zwei Freundinnen antworteten „Wir finden du bist natürlich schon lange Flensburgerin. Und daher natürlich Norddeutsche. Ob du auch schon Freiburgerin bist, wissen wir nicht genau. …“. Es sei dahin gestellt, ob ich nun auch eine Süddeutsche bin. Mir wurde einmal hier in Südbaden gesagt: „Du bist eine, wo richtig gut Deutsch kann.“ Stimmt! Ich kann außerdem Hochdeutsch. An der Antwort meiner Freundinnen gefällt mir eine Tatsache, die in Deutschland aber auch in jedem Land stimmt: wir sind kein Volk, das innerhalb der nationalen territorialen Grenzen eins und unteilbar ist. Vielmehr prägen uns sehr übersichtliche, lokale Ereignisse und Erlebnisse. Wir sind eine Vielfalt von Menschen, die mehr oder weniger zufällig, eher durch politische Einflüsse und im Laufe der Geschichte zu einem Land zusammengeführt worden sind. Grenzen sind eine geschichtlich gesehen sehr instabiles Konstrukt. Ob ich die deutsch-dänische oder die deutsch-französische Grenze betrachte, sind diese erst kürzlich entstanden. Ich lese mal wieder im Internet: erst 1907 hat Dänemark die Grenze zu Deutschland anerkannt. Nach vielen Hin und her wurde das ehemalige Elsass-Lothringen, das während dem zweiten Weltkrieg nicht nur besetzt sondern annektiert wurde, erst 1944 nun endgültig Französisch.
Vor drei Jahren habe ich in einigen französischen Grundschulen Theater-Projekte durchgeführt. Allesamt in sogenannten bilingualen Klassen. Die jungen Elsässer*innen lernen nun wieder Deutsch. Oft ist es so: die Großeltern sprechen manchmal noch Elsässisch oder Deutsch oder beides, die Eltern nicht mehr… und die jungen Europäer*innen lernen es nun wieder. Zwischendurch verheimlichten viele Bewohner*innen ihre Kenntnisse der deutschen Sprache – aus Scham, aus Angst vor Vergeltung oder Ressentiment oder um zu vergessen. Die Spuren des zweiten Weltkrieges sind in dem Elsass noch spürbar schmerzhaft. Umso schöner ist es, wenn die heutigen Kinder über die Grenze hinaus schauen und mit mehreren Sprachen aufwachsen. Es ist zugleich Ausdruck und Ergebnis der langjährigen deutsch-französischen Freundschaft. Ein langwieriger Versöhnungs- und Annäherungsprozess, der inzwischen beispielhaft für viele andere Grenzregionen ist. Schade, finde ich dagegen, dass das Erlernen der französischen Sprache in der deutschen Grenzregion ab dem nächsten Schuljahr nicht mehr ab der 1. sondern erst ab der 3. Klasse möglich und optional wird. Grund hierfür ist der Lehrkraft-Mangel. Man kann sich die Frage stellen, ob es zeitgemäß ist, Fremdsprachen aus der Grundschule heraus zu streichen? Gleichzeitig kann man sich die Frage stellen, ob Französisch noch eine ach so große Rolle für deutsche Grundschulkinder spielt? Sprechen nicht die heutigen deutschen Kinder längst andere Sprachen? In meine Augen wäre der Erhalt der Fremdsprachen in der Grundschule ein gutes Instrument, um die kulturelle und sprachliche Vielfalt eines Landes von Anfang an zu stärken. Es wäre ein gutes Instrument, um womöglich Kinder, die „nur“ Deutsch sprechen, eine zweite Sprache zu geben, um Mehrsprachigkeit als eine Tugend zu fördern.
Was Sprache über uns erzählt?
Ich habe einen starken Akzent. Lange glaubte ich für Fremdsprachen nicht so begabt zu sein. Es wurde mir nachhaltig eingeredet. Mal von einem ziemlich schlechten Englisch-Lehrer, mal von Menschen, die ihre Zugehörigkeit anscheinend an ihrem Akzent messen, Deutsche und Franzosen, mal von mir selbst – meine Familie sei ja einsprachig. Erst vor kurzer Zeit erkannte ich, dass mein Vater zweisprachig ist, dass unsere Familie stets zwischen Sprachen wechseln konnte. Meine Großeltern drückten sich noch überwiegend in einem normannischen Dialekt aus, mein Vater spricht etwas dazwischen, ich verstehe es zum Großteil, die nächste Generation (meine Nichten und Neffen) benutzt diese vergangene Ausdrucksweise nicht mehr. Um in meinem französischen Herkunftsort „ich auch“ zu sagen, sagen wir im Französischen „moi aussi“ aber auch oft auf normannischer Art „me itou“. Mein Vater, der ja nun definitiv kein English spricht und lange einen unbegründeten, völlig idiotischen leichten Hass gegenüber Engländer*innen pflegte, kam vor ein paar Jahren begeistert von einem Ausflug zu den englisch-normannischen Inseln zurück. Ihr Dialekt sei ja beinah derselbe wie seiner… Was für eine Entdeckung! Plötzlich sprachen wir also fast englisch. Es ist ja nicht verwunderlich. Die Normandie und ihre Geschichte sind eng mit der englischen Geschichte verbunden. Der Name ist Programm: die Region bildete sich als Einheit durch die Invasionen der Wikinger. Vor sehr langen Zeit allerdings, ungefähr 1000 Jahren. Die Normandie pflegt bis heute ihr Selbstbild als tolerant und politisch moderat, obwohl die Wikinger für ihre Brutalität berühmt waren. Ein französischer Spruch bringt es auf dem Punkt und beschreibt wortwörtlich Unentschlossenheit als eine normannische Antwort. „Tet ben qu’oui, tet ben qu’non“ – sagen also die Normannen. Das heißt so viel wie „vielleicht ja, vielleicht nein“ – wer weiß es schon?“. Diese Erzählung – heutzutage wurde man sagen, dieses Storytelling – zeigt sich identitätsstiftend. Obwohl die regionale Identität nicht so ausdrucksstark wie vergleichsweise in der Bretagne ist, bildet eine weit entfernte Geschichte die Grundlage für eine moderne Erzählung der Identität in der Normandie. Die Region wird nun inzwischen eher für ihre Gemäßigkeit und ihre Weltoffenheit gefeiert. Die Pflege dieses Bildes hängt selbstverständlich auch mit der Vermarktung der lokalen Identität durch die Tourismusbranche zusammen und folgt wirtschaftlichen Interessen. Eine ähnliche Entwicklung kann man auch sehr leicht in Norddeutschland und in meiner geliebten deutschen Heimatstadt Flensburg beobachten. Schleswig-Holstein ist nun das Land zwischen den Meeren, aber vor allem auch der echte Norden… Fragt sich nur, wo der falsche Norden liegt? Und auch, was diese Marketing-Kampagnen in der Bevölkerung für Erzählungen hinterlassen? Ist „echt“ Norddeutsch nur wer platt kann? Womöglich sich als Wikinger identifiziert? Zugegeben manche Freund*innen vor allem aus Angeln, der hügeligen Halbinsel zwischen der Flensburger Förde und der Schlei bei Schleswig, sehen tatsächlich ein wenig wie Wikinger*innen aus – oder zumindest das was ich mir drunter vorstelle. Dort liegt auch die bedeutende ehemalige Wikinger-Siedlung Haithabu und ihr touristisch attraktives Museum. Interessanter Weise lese ich auf Wikipedia folgendes über Angeln: „Angeln stellte zu keiner Zeit eine politische Einheit da. Dennoch nennen sich die Menschen dort Angelner oder Angeliter (angelboer) und pflegen eine damit verbundene Identität. „
Was ist also identitätsstiftend? Die Sprache, die Geschichte, die Landschaft oder unsere Erzählung der Gegenwart? Etwas dazwischen.
Einen Freund, der aus dieser Gegend kommt, habe ich in den ersten Jahren unserer Freundschaft – er war mein Mitbewohner – nie verstanden. Sprachlich, meine ich. Er ist Segler, war zu der Zeit viel in Dänemark unterwegs und hat außerdem einen etwas sarkastischen Humor. Erschwerend kam hinzu, dass ich in dieser Wohngemeinschaft in Flensburg mit ihm und zwei seiner langjährigen Freunde aus ebendiesem Angeln landete. Alle drei, besonders er, sprachen eine Art Kauderwelsch aus Plattdeutsch, Deutsch und Dänisch. Obwohl ich sie sprachlich meist kaum verstanden habe, hat uns schnell etwas anderes verbunden: vielleicht ein Lebensgefühl? Etwas, was wir uns meist durch Blicke sagten. Zugegeben manchmal vielleicht auch der etwas gemeinsame tiefe Blick ins Glas… Dass ich mich dem Norden, dem Echten, verbunden fühle, hat aber wenig mit der frühen Geschichte der Wikinger zu tun. Selbst wenn ich es in mein persönliches Storytelling aufgenommen habe, wenn ich meine Identität damit weiter erzähle oder wenn ich in den Ortsnamen meiner heimatlichen Region die Spuren der Wikinger auflese, es ist nur eine Erzählung. Was meine ich damit? Die Ortsnamen der Normandie sind durch und durch Zeuge der Geschichte und tragen ein Hauch alt skandinavischer Sprache in sich. „Mein“ Strand, der Familienstrand, wahrscheinlich der Ort, den ich mir am meisten verbunden fühle auf dieser Erde, trägt der Name „Tocqueboeuf“. Wir sagen sowas wie „Tok‘bö“. Ein wichtiger Wikinger hatte sich in der Gegend etabliert. Er hieß „Tóki“ und hinterließ seinen Namen. Der zweite Teil des Namens hat mit dem französischen Wort „Boeuf“ (Rind) nur scheinbar zu tun. In der Tat handelt es sich um eine alte Form des Wortes „by“, das im Dänischen Stadt oder Ort bedeutet. Genau der selbe Klang findet sich in Schleswig-Holstein wieder, in der Nähe von Flensburg, nicht nur in Haitabu, sondern auch in Husby, Meldeby, Nieby, Brodesby, Ueslby, Fleckeby, usw. usf. Der Wikinger hinterließ auch den Name „Tocqueville“. Jener Ort, aus dem die Adel-Familie von Alexis de Tocqueville stammte. Auf ihn komme ich ein anderes Mal zurück. Wäre ich als Erasmus-Studentin anderswo gelandet, hätte ich bestimmt eine andere Erzählung gefunden, wäre einer anderen Spur meiner ganz eigenen Geschichte gefolgt.
Meine Zugehörigkeitsgefühle zum echten Norden hangen sicherlich viel mehr mit den vielen Freundschaften zusammen, die ich dort pflege, als mit der Geschichte der Wikinger vor – ich wiederhole – ungefähr tausend Jahren. Diese Gefühle hängen eher mit dem Meer und mit einer bestimmten Haltung zusammen, die ich damit verbinde. Am Meer ruht man in sich, in den Bergen wandert man immer weiter… So mein Eindruck nach mehreren Jahren in der Nähe des Schwarzwaldes und seinen Bergen. Vielleicht erzählen Landschaften viel mehr über uns als Sprachen oder Nationalitäten? Vielleicht finde ich mehr Gemeinsamkeiten mit großgewachsenen Angelitern um ein Glas Flensburger Rum herum, als mit holzigen Schwarzwäldern um ein Kirschwasser sitzend?
Aus einem völlig anderen Kontext verfestigte sich bei mir der Eindruck, Landschaften, Orte oder sogar Architektur seien eine Tür zu einer gemeinsamen konstruierten Erzählung. Ich weiß noch, wie ich während eines interkulturellen Projektes Zugang zu einem syrischen jungen Mann fand. Ich hatte Croissants mitgebracht und er beschrieb mir die französische Bäckerei von Damaskus, in die er als Grundschüler gerne ging. Mir war es bis dahin nicht bekannt. Damaskus soll ein französisches Flair haben. Grund hierfür ist die koloniale Geschichte. Klar, Franzosen waren ja überall. Diese eine städtische Landschaft, Überbleibsel der schmerzhaften Kolonialgeschichte, öffnete uns also eine Tür zueinander, fernab der Geschichte.
Erst kürzlich entdeckte ich in einer Radiosendung über die psychologische Entwicklung von Jugendlichen den Begriff „narrative Identität“. Der französische Philosoph Paul Ricoeur (1913 – 2005) beschrieb das Konzept, das er geprägt hat, so: „Die Identität der Menschen und auch die Identität einer Gemeinschaft entsteht aus der Geschichte heraus, die diese gemeinsam erleben und die sie sich einander erzählen. Darum ist die Identität eines jeden mit den Identitäten aller Anderen eng verbunden. Denn nur weil ich weiß, dass auch der Andere tief in mir lebt und dass ich mich auch selbst über diesen Anderen, der in mir lebt, definieren muss, nur das führt dazu, dass ich mich dann tatsächlich selbst entdecken und verstehen kann.“ Ich empfinde diese Beschreibung als sehr befreiend und ermächtigend. Es liegt an mir meine eigene Geschichte zu schreiben. Es liegt an uns unsere gemeinsame Geschichte zu erzählen. In näherer Zukunft werden immer mehr Menschen aus unterschiedlichen Regionen in großen Städten zusammen leben, also liegt es heute an uns, unsere neue Landschaft der Zugehörigkeit zu erfinden.